abblogok
vom 1. August 2001
 
Eine Dorfbeschreibung vom Ende des 19. Jahrhunderts
Als die Leiberstunger noch "Sauerkrautbettler" hießen
Zahlreiche Episoden und Anekdoten werden aufgelistet
 
 
Von unserem Redaktionsmitglied Wilfried Lienhard
 
Sinzheim-Leiberstung. Dass die Leiberstunger gemeinhin als "Muhrenten" gelten, weiß im Wendelinusdorf wohl jedes Kind. Doch einst hießen sie auch "Surkrutbettler" - auf Hochdeutsch: Sauerkrautbettler. In den Freiheitskriegen zu Beginn des 18. Jahrhunderts machten sich die Leiberstunger auf nach Weitenung, um dort für die bei ihnen einquartierten russischen Soldaten Nahrung zu erbitten - und schon hatten die lieben Nachbarn einen neuen Kosenamen für die Leiberstunger gefunden. Diese Anekdote ist eines von zahlreichen Details einer Dorfbeschreibung vom Ende des 19. Jahrhunderts. Freiburger Forscher hatten 1894/95 eine "Sammlung der volkstümlichen Überlieferungen in Baden" begonnen. Dazu schickten sie 3 000 Fragebogen hinaus ins Land, in jedes noch so kleine Dorf. Sie begehrten zu wissen, wie das Dorf aussieht, welcher Baustil vorherrscht, wie sich die Menschen kleiden, welche Sagen sie erzählen, wie sie ihre Feste feiern, ihre Toten betrauern - der Wissensdurst war groß. Vor Ort waren es meist Pfarrer oder Lehrer, die Antworten zu Papier brachten. Über 550 Fragebogen fanden ausgefüllt den Weg zurück in den Breisgau, wo sie heute in der Landesstelle für Volkskunde aufbewahrt werden.
 
 
vetterm
LEIBERSTUNG VOR 100 JAHREN: Auch mit Hausbau
und Kleidung beschäftigten sich die Forscher
 
In Leiberstung war es Lehrer Noth, der die Aufgabe übernahm. Er war offensichtlich ein bescheidener Mann. Am Ende seiner 31 Seiten zählenden Dorfbeschreibung relativiert er die eigenen detaillierten Schilderungen: "Zur allgemeinen Ausführung dieser Volkskunde muß ich bemerken, daß der hiesige Ort und Gemarkung klein sind und sich daher nicht so viel Stoff ergeben hat." Noth stellt sein Licht unter den Scheffel, denn was er zusammengetragen hat, ist eine umfängliche Beschreibung des Leiberstunger Dorflebens am Ende des 19. Jahrhunderts. Im nächsten "Fremersberger", der im kommenden Jahr erscheint, will der Förderverein Sinzheimer Brauchtum über die Inhalte berichten.
 
Das Lesen lohnt, denn es entsteht vor dem geistigen Auge das bäuerliche Leben einer kleinen Gemeinde im Rheintal. Dass die Leiberstunger damals ihr Auskommen fast ausschließlich in der Landwirtschaft fanden, überrascht nicht. Doch was kam vor 100 Jahren auf den Tisch zum Essen? Auf dem Speiseplan stand das, was die Landwirte selbst anbauten oder hielten: Sauerkraut, Schweinefleisch, Wirsingkraut, Rüben in verschiedenen Variationen: süß, gedörrt, eingemacht; Kartoffeln, Bohnen, Kuchen, Knöpfle, Dörrobst. Drei bis vier Mal gab es Schweinefleisch, sonntags Rindfleisch. Mittwochs und freitags servierte die Hausfrau für gewöhnlich Bohnen.
 
deibel
DIE LANDWIRTSCHAFT BESTIMMTE DAS LEIBERSTUNGER LEBEN VOLL
UND GANZ. Das geht aus den Aufzeichnungen des Leiberstunger Lehrers
hervor, der 1894/95 einen Fragebogen Freiburger Forscher aus füllte.
Fotos: Förderverein Sinzheimer Brauchtum
 
Die Dominanz der Landwirtschaft zeigt sich auch in Geschichten, die als Reflex auf die tägliche Arbeit zu sehen sind. Aus ihnen tritt die Sehnsucht nach dem Schlaraffenland hervor, dem Gegenentwurf zur kargen Gegenwart. Damals, so beginnt die Geschichte von der "Riesenkuh", machten sich die Leute viele Sorgen um die Aufbewahrung der Milch. Die Kühe waren so groß, dass ihre Milch in einem riesigen Teich gesammelt werden musste. Jeden Tag mussten ein paar Männer, um den Teich mit Schiffchen fahren, um den Rahm abzuschöpfen. Das Merkwürdigste aber waren die großen Hörner der Kühe: "Wenn man auf Ostern hineingeblasen hat, so ist der Ton auf Pfingsten herausgekommen."
 
Ausführlich widmet sich die Beschreibung dem Leben von der Geburt bis zum Tod. Dies ist jedoch auch eine Dokumentation strenger Konventionen, deren Befolgung oder Nichtbefolgung über die Rolle in der Dorfgesellschaft entschied. Wer sich an überlieferte Verhaltensweisen nicht hielt, galt schnell als Außenseiter.
 
Die Hebamme, so wird es den Kindern erzählt, holt die Babys aus dem "Kindelsbrunnen". In das erste Bad wird Weihwasser gegossen. Die Taufe steht normalerweise in den ersten Tagen nach der Geburt an. Nach der Taufe wird zu Hause ein einfaches Essen serviert. Fällt die Taufe auf einen Sonn- oder Feiertag, gehen die Angehörigen noch ins Wirtshaus, um ein Glas Wein zu trinken. Die Mutter ist nicht dabei. Die Wöchnerin darf den Hof vor dem ersten Ausgang mit dem Kind nicht verlassen.
 
Am Ende des Lebens: Beim Toten wachen zwei Nächte lang die Verwandten. Der Tote wird mit Sterbekleid und Rosenkranz in den Sarg gelegt. Bei der Beerdigung wird der Sarg auf einer Bahre zum Friedhof gebracht, in einigen Fällen auch auf einem gewöhnlichen Wagen. Die Trauerzeit beträgt ein Jahr, während der die mit dem Toten verwandten Frauen und Mädchen schwarz gekleidet sind.
 
Bräuche sind auch mit der Landwirtschaft verbunden. Bevor der Bauer Flachs säet, isst er gebackene Eier. Am Sonntag nach dem Ende der Ernte, wurde einst der "Erngang" gehalten, ein Fest, bei dem die Kinder Geld erhielten, das sie in den Wirtschaften für Speis und Trank umsetzten. Auch von einstigen Zehntgepflogenheiten berichtet Noth. Einen Teil der Ernte mussten die Leiberstunger Landwirte aufs Neuweierer Schloss bringen. Im Dialekt vermerkt Noth: "Wenn als die Bure nusgführt hen uf Nüwier ins Schloß, hen se als umesonst zuffe bekumme un sin als gwehnli bsoffe heimkumme."