Volkstrauertag 2003 – Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewalt
 
LiebeLeiberstunger Mitbürgerinnen und Mitbürger, sehr geehrte Damen und Herren Vereinsvorsitzende !
 
Die Zeit der Gedenk- und Andachttage liegt nun wieder vor uns. Ein wichtiger Gedenktag hierbei ist ohne Zweifel der Volkstrauertag,
 
am Sonntag, dem 16.11.2003
 
Wie in den vergangenen Jahren auch, werden Kirchen- und die politischen Gemeinden den Opfern von Krieg, Vertreibung und Repression gedenken. Ich darf Sie alle recht herzlich hierzu einladen.
Gemeinsam feiern wir an diesem Sonntagvormittag den Gottesdienst, an welchen sich eine Ansprache zu diesem Gedenktag anschließt. Nach dem Gottesdienst, welcher um 8.30 Uhr beginnt, werden wir, wenn es die Witterung zulässt, gemeinsam mit einem Gedenkmarsch zum Friedhof gehen, angeführt von Ehrenabordnungen der Leiberstung Vereine - unter Fahnenbegleitung. Am Friedhof werden wir im Gedenken an die Opfer einen Kranz niederlegen und in einer Gedenkminute verharren. Die musikalische Gestaltung wird durch die Leiberstunger Chöre übernommen. Ich bitte Sie herzlichst, hieran teilzunehmen und somit diesem Gedenktag den gebührenden Stellenwert einzuräumen – ganz besonders gilt dieser Aufruf auch den Jugendlichen !
Gerade in der aktuellen Situation, in welcher die Themen Krieg, Vertreibung, aber auch die Trauer um Opfer zahlreicher Katastrophen wieder stärker in den Vordergrund unseres Alltages gerückt sind, sollte dieser Gedenktag ein Zeichen sein, welches man auch ganz persönlich setzen sollte – gemeinsam mit allen Mitbürgerinnen und Mitbürgern.
Naber -Ortsvorsteher-
 
Ansprache zum Volkstrauertag 2003
von Ortsvorsteher Alexander Naber
 
"Komm, wir spielen Afghanistan - ich bin der Ami und Du bist so 'n Terrorist!"
 
Eine nette Einladung, wer kann dazu schon Nein sagen - oder finden Sie nicht ?
 
Schön, wenn Kinder doch miteinander spielen und nicht immer nur vor dem PC sitzen und irgendwelche Monster und Außerirdische abknallen, pulverisieren oder irgendwelche Mordbuben im neuesten Lara-Croft-Abenteuergame zu Brei schlagen. Schön, wenn Kinder miteinander spielen.
 
Diese Einladung zum Spiel, "Komm, wir spielen Afghanistan!", ist nicht etwa eine Erfindung von mir, sondern wirklich der Beginn eines Spiels von Kindern, aktuell und nicht nur eine Erfindung der Medien.
 
Als in diesem Jahr die aktuelle Spielwarenmesse eröffnet und mit dieser auch die neuesten Familien-, Gesellschafts- und Kinderspiele vorgestellt wurden, veröffentlichte man zeitgleich eine "Hitliste", welche die Lieblingsspiele der modernen Kids auflistete. Sehr zur Zufriedenheit vieler Eltern und Pädagogen fanden sich darunter klassische, ja wieder neu entdeckte Spiele wie Himmel und Hölle und Gummi-Twist, Klassiker wie Verstecken, Fangen und einige mehr - Spiele für mehrere Kinder, Gruppenspiele. Aber auch eben - Krieg-spielen. War es früher noch interessant, Räuber und Gendarm zu spielen, der gute Polizist und der Böse Kaugummi- oder Murmelräuber, so werden auch diese Personen aktueller - und, wie ich persönlich meine, gefährlicher.
 
Krieg spielen - komm, wir spielen Afghanistan - ich bin der gute Soldat und Du bist der böse Terrorist. Hat es dem Gendarm zu jederzeit immer genügt den fiesen Räuber zu fangen und zu verhaften, so ist es heute, aktuell die Pflicht des guten Soldaten den bösen Terroristen abzuknallen.
 
Da wird der Sandkasten zur Wüstenlandschaft umfunktioniert - mit Schützengraben und Sandwällen, der Abenteuerspielplatz mutiert zum Dschungel in welchem sich "Rambo und Co" zuhause fühlen würden, die Häuserzeile in der Stadt zum urbanen Kampfzentrum - es herrscht "Ausnahmezustand" wie im Film in welchem es gilt, alle Terroristen zu finden und zu erschießen - "Judge Dred" lässt grüßen. Astgabeln werden zu Maschinengewehren, Konservendosen zu Handgranaten und mit Kieselsteinen gefüllt zu Splitterbomben. Kinder sind erfinderisch, wenn es darum geht das Spiel auszugestalten. Was sie sehen oder erleben wird ins Spiel verwandelt und damit ausgelebt - man beschäftigt sich damit.
 
Nun ist es sicher nicht so, dass die Eltern dazu animieren : "Komm geh raus, spiel mit Deinen Freunden ein wenig Häuserkampf, oder Dschungelschlacht - aber sei um sechs Uhr wieder zu Hause!" - nein, das mit Sicherheit nicht.
 
Auf der anderen Seite aber ist es die Ausnahme, wenn Eltern mit ihren Kindern über diese Art Spiele reden, sich mit diesen Dingen auseinandersetzen und versuchen, ihren Sprösslingen die Gefährlichkeit dieser Spiele zu verdeutlichen.
 
Gefährlich aus dem Grund, da sie dazu verleiten, durch das spielerische "is ja nur ein Spiel" die Kontrolle über das Potential Gewalt zu verlieren. Die imaginäre Kugel, abgefeuert aus dem Holzmaschinengewehr tut schließlich nicht weh, die Bombenexplosion im Matsch- und Sandkasten betrifft am Ende eigentlich auch nur die Mutter, welche sich über die "kampferprobte Kleidung" in der Waschküche hermacht.
 
Aber es ist nicht nur die Gefährlichkeit, das ungeheure Potential von "gespielter Gewalt". Es ist auch das Verlernen, verlernen oder vergessen, dass Gewallt nicht einzig das Mittel zum Durchsetzen von Frieden oder etwas Gutem ist, sondern eben schlussendlich auch verletzt, tötet - mordet.
 
Krieg ist kein Spiel für Kinder - auch wenn sie oft genug für die Zwecke des Krieges eingesetzt und ausgenutzt werden, wie man leider immer wieder hört und sieht. Kinder erlernen das Handwerkszeug und glauben dass es richtig ist. Kindersoldaten in Afrika und vielerorts auf der Welt - ausgebildete Kampfmaschinen. Sie morden ohne Nachzudenken, da es die Großen vormachen, ihnen sagen, dass das wichtig ist für einen selbst-um zu überleben, um die Heimat oder die Familie zu schützen - dann wird es ja schon richtig sein - welches Kind soll hier den Unterschied sehen? Es kennt doch nichts anderes und die Erwachsenen machen es vor.
 
Ebenso ist es im Spiel. Man sieht die Bilder des Todes tagtäglich auf dem heimischen Fernseher. Kinder nehmen diese Bilder, alles was sie sehen und hören viel intensiver und eindringlicher auf - weil sie lernen wollen, weil sie unbewusster ihre Umgebung aufnehmen, Erfahrungen suchen und sammeln - Erwachsene haben diesen Prozess schon hinter sich, wissen mehr und analysieren anders. Viel schneller akzeptieren Kinder, dass in einem solchen Spiel eben "einer oder mehrere drann glauben müssen" - so ist eben das Spiel, so ist für sie das Leben.
 
Sie kennen die Hintergründe nicht, warum macht der das - warum tötet dieser Soldat, dieser Mann, diese Frau. Was für uns Erwachsene Nachrichten aus aller Welt sind, welche wir dann zu Hause oder im Freundeskreis kommentieren oder darüber reden - für Kinder ist es ein Teil des Lebens, welches sie kennenlernen und lernen. Ein unbedachtes Wort, ohne Kommentar oder Erklärung, für Kinder ist es wie ein Gesetz - schließlich hat es ein Erwachsener gesagt, also muss es stimmen.
 
Da ist für ein Kind klar, dass die Amis die Guten sind, die müssen die Araber abknallen, damit wir in Ruhe leben können - so hat es schließlich der Papa gesagt. Für den Jungen aus der Nachbarschaft, der vielleicht vom Onkel gehört hat dass alle Amis spinnen weil sie "da unten nix zu suchen haben und einfach nur alle abknallen wegen dem Öl" sieht das Weltbild ganz anders aus.
 
Beide Kinder zusammen versuchen nun ihre Ansichten von Schwarz und Weiss auszutauschen und schon "herrscht Krieg" - komm, wir spielen Afgahnistan!
 
Aber nicht nur im freien Spiel herrscht Krieg. Nein, auch vielerorts im heimischen Kinderzimmer. Wie bereits zu Anfang erwähnt erfreuen sich Computerspiele wachsender Beliebtheit, und zum Erschrecken vieler, auch schon bei Kindern im Grundschulalter zählen die Ballerspiele und Kampfsimulationen zu der "tollsten" Freizeitgestaltung. Waren es früher an den Spielkonsolen noch eine einfache "Invasion aus dem Weltall", in der es galt, mit einem umherwandernden Ball möglichst viele Aliens in Form und Gestalt von fliegenden Untertassen zu treffen und dafür Punkte zu sammeln, so ist es heute viel intensiver, realer und gewaltverherrlichender.
 
Bei Ihnen gibt es das nicht? Auch keine Nachrichtensendung oder Actionfilme im Fernsehen, welche zufällig von Ihrem Sprössling gesehen werden könnte? Nur am Nachmittag ist Fernsehen erlaubt und dann auch nur die Trickfilmkanäle? Ich empfehle jedem von Ihnen einen Nachmittag mit Super-RTL und Co. - sie werden erstaunt sein, wie viele Tote es während eines Trickfilmes gibt, wie viele Gewaltszenen gezeigt werden, durch welche sich die vermeintlichen Superhelden kämpfen müssen.
 
"Komm, wir spielen Afghanistan"
 
Wir begehen heute, alle gemeinsam, mit vielen anderen Menschen, unterschiedlicher Nationen den Volkstrauertag. Wir gedenken alle gemeinsam all denjenigen, welche durch die verheerenden Kriege in der Vergangenheit und auch den aktuellen Auseinandersetzungen ihr Leben, ihre Heimat, ihr Würde verloren haben - unter dem Vorwand territorialer Streitigkeiten, fehlgelenkter Ideologien, blinden Hasses oder Gegensätze im religiösen Glauben, oder eben einfach nur aus Neid und Geldgier.
 
Als ob die verheerenden Kriege des letzten Jahrhunderts nicht schon genug Grauen über uns alle gebracht haben, so beginnen sich jeden Tag neue Krisenherde in brennende Infernos zu verwandeln.
 
Als vor Jahren der Krieg auf dem Balkan ausbrach schien es, als ob die Menschen in Europa aus ihrer Gleichgültigkeit, ihrer Lethargie gegenüber den Kriegen auf der Welt aufgewacht wären. Man hatte das Gefühl für "Krieg" vergessen, verdrängt - das Leben von diesem unheilvollen Gedanken gereinigt - ja, regelrecht vergessen.
 
"Komm, wir spielen Afghanistan" - können Sie sich noch an den letzten Krieg in Afghanistan erinnern? Ich erinnere mich noch an die Tagesschau - der Krieg in Afghanistan - dort war es ein Kampf der "bösen Russen" und den "Freiheitskämpfern" - unterstützt durch "den Westen" - weit weg, eben wieder der Kampf zwischen Gut und Böse, aber er betraf uns hier nicht. Jetzt ist es anders - jetzt sind wieder deutsche Soldaten beteiligt - als "Friedenstruppe".
 
"Komm wir spielen Afghanistan!"
 
Jahrelang hat uns das Thema Krieg eigentlich nicht interessiert. Erinnert wurde man nur ab und zu, wenn wieder eine Gedenknacht an die Pogrome der 30er Jahre gefeiert wurde, oder ein Mahnmal enthüllt. Der Volkstrauertag geriet ebenso immer in Vergessenheit - war ein Sonntag wie jeder andere, an welchem eben mehr alte Leute in die Kirche gehen als sonst, an welchem eben Politiker und Verantwortungsträger auf die Friedhöfe ziehen und Kränze niederlegen. Da muss man nicht unbedingt hin, das ist für die alten Leute, "das is halt so'n Tag, an dem die Politiker Reden schwingen über'n Krieg!" Dass aber im Stillen, Verborgenen das Thema Krieg immer mehr Einzug in unser Leben und unsere Gesellschaft gehalten hat - viele haben es nicht bemerkt, einiges habe ich in den Zeilen vorher angesprochen - erkennen Sie es wieder ?
 
Ich denke, es sollte mehr an diesem Tag sein - mehr an diesem "Volkstrauertag"; mehr, für die älteren Mitbürger, welche noch einen richtigen Krieg erlebt und mitmachen mussten - sie haben Männer, Söhne durch die Front verloren, Frauen, Schwestern, Eltern durch die Bombardements, Heimat und Gut - Würde durch Besatzung und Vertreibung; mehr, für die jüngeren Generationen, welche nur von ihren Eltern die Geschichte erzählt bekommen, welche sich dieses Leid nicht vorstellen können - davon eigentlich auch vielerorts nichts wissen wollen, "sind doch alles alte Geschichten!"; mehr, für die Jugendlichen, welche sich mit diesen Dingen überhaupt nicht beschäftigen weil solche Gedenktage halt "nicht cool" sind.
 
Aber ich denke, sie sind cool - weil sie nicht einfach nur einen Eintrag im Kalender darstellen, sondern eben jedem einen wichtigen Fingerzeig geben können, welcher für sein eigenes Leben von Bedeutung sein kann.
 
Aufzeigen und erinnern, daran erinnern, wozu Gewalt und blinder Hass führen können. Nicht nur im Orient, in Afrika, auf dem Balkan oder irgendwo in den Weiten der ehemaligen Sowjetunion - sondern vielleicht auch bei uns. Denn - es herrscht auch in unserem täglichen Leben Krieg.
 
Krieg in der Gesellschaft - der Unterschied Arm und Reich; Krieg in unserem täglichen Leben - "Ich Deutsch Du Ausländer"; Krieg auf den Straßen - wenn Jugendliche ziellos umherziehen und sich in Bandenkriegen bekämpfen, weil sie keine Zukunft sehen oder es eben als natürlich betrachten; Krieg in den Städten - Schmelztiegel vieler Nationalitäten, vieler menschlicher Schicksale, wenn Einsamkeit kalt und unerbittlich macht;
 
Krieg aber auch in der heilen, gutsituierten Welt - wenn alle Bedürfnisse des Körpers gestillt werden können durch Geld und Reichtum - wenn Gewalt am Ende noch der einzige Kick ist den man braucht um nicht zu versauern - obwohl man doch eigentlich alles hat;
 
Das jüngste Ereignis, Jugendliche, welche auf einen Obdachlosen einprügeln - ohne jeden ersichtlichen Grund, sollte uns als Warnung dienen und gleichzeitig aufrütteln.
 
Aufrütteln, diesen Kriegen in unserem täglichen Leben entgegenzuwirken; Warnen, es nicht noch weiter kommen zu lassen.
 
Jeder kann hier seinen Teil beitragen.
 
Das Gedenken an alle, welche Opfer von Gewalt, Krieg und Vertreibung geworden sind, sollte unsere Gesellschaft Einen und uns erinnern, nicht selber Grund für einen Krieg zu sein, selber einen Krieg zu beginnen, sensibilisieren, das Thema Krieg und Gewalt nicht totzuschweigen weil es einfacher ist. Vergessen war noch nie eine gute Taktik.
 
Vielleicht heißt es dann irgendwann einmal auf dem Spielplatz : "Hey Du, komm lass uns Friedenskonferenz spielen!"
 
Lassen Sie uns alle Gemeinsam diesen Tag begehen und uns gemeinsam für die Zukunft, an unsere Vergangenheit und die Gegenwart erinnern. Ich lade Sie herzlich ein, stellvertretend für alle Menschen, welche Opfer von Kriegen und Gewallt geworden sind, einen Kranz am Denkmal für die Gefallenen Söhne Leiberstungs niederzulegen und in einem stillen Gedenken allen Verstorbenen zu versichern : wir haben Euch nicht vergessen und werden Euch nicht vergessen, Euer Tod ist uns Mahnung und Lehre - wir wollen nicht noch einmal solches Leid erfahren, erleben müssen, nicht noch mehr verlieren.

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