Ansprache zum Volkstrauertag 2001
von Ortsvorsteher Alexander Naber
 
Es ist nun schon wieder genau ein Jahr vergangen, seit ich Ihnen, hier an dieser Stelle, erzählt habe, welche Definitionen verschiedene Menschen für den Volkstrauertag haben.
 
Jeder hatte diesen Tag für sich selbst anders gedeutet.
 
Einige haben sich gegen dieses kollektive Gedenken ausgesprochen, weil sie dahinter gar Kriegstreiberei sehen.
 
Aber – und das hatte mich im vergangenen Jahr eben am meisten bewegt – ein großer Teil meiner Gesprächspartner, vor allem jüngere Menschen, haben diesem Tag überhaupt keine Bedeutung mehr zugewiesen – es ist halt ein Sonntag im November, an dem die Alten in die Kirche gehen.
 
Gerade die jungen Menschen, nicht nur meine Generation, sondern eben auch alle, welche nach den Kriegsjahren und den Jahren der Entbehrungen in einer blühenden, vom Überfluss gekennzeichneten und befriedeten Gesellschaft aufgewachsen sind, haben scheinbar alle Gedanken an Repression, Zerstörung und Gewallt durch Krieg aus ihren Köpfen verdrängt.
 
Dabei ist die Gefahr von kriegerischen Auseinandersetzungen und Gewalt gegen Unschuldige allgegenwärtig – heute sogar stärker und bedrohlicher denn je.
 
Im vergangenen Jahr habe ich das oft gebrauchte Bild der Friedenstaube für den nahezu abgeschlossenen Friedensprozess im Nahen Osten gezeichnet. Aber gleichzeitig auch die damals neuen Entwicklungen, das Wiederaufflammen des Kampfes zwischen Israelis und Palästinensern und die sich daraus ergebenden Konsequenzen mit Sorge betrachtet.
 
Heute, gerade ein Jahr später ist die Gewalt in diesem Krisengebiet wieder wie eh und je an der Tagesordnung – israelische Panzer rollen gegen palästinensische Steinewerfer und Bombenleger – ultraorthodoxe Juden gegen militante Palästinenser – der Kampf einiger Weniger wird wieder zum bedrohenden Krieg für beide Volksgruppen, für ein ganzes Land – für die gesamte "zivilisierte" Welt, wie sich bald wieder herausstellen sollte.
 
Für uns scheint es, oder besser gesagt : schien es, wie immer zu sein – Israel ist weit weg, die meisten kennen es nur aus den Nachrichten oder durch Urlaubsreisen – und doch ist es dieses mal anders.
 
Der Krieg zwischen den Besatzern und den Besetzten ist längst kein Konflikt mehr, welcher auf dem eigenen Boden ausgetragen wird – im Gegenteil, er wird nun über die ganze Welt verteilt – nicht einmal mehr als ein Konflikt um seinen Lebensraum auszudehnen oder zu sichern, sondern als ein Konflikt des Glaubens.
 
Wir stehen, auch wir hier in unserem "befriedeten" Deutschland, einer neuen, bisher nicht gekannten Form des Krieges gegenüber – viel subtiler und gleichzeitig auch menschenverachtender als alle Konflikte bisher – dem Krieg der Terroristen.
 
Das Inferno des 11. September 2001 wird wie kein anderes Geschehen in die Geschichte eingehen, in gleichem Atemzug genannt werden wie das Bombardement von Dresden, Pearl Harbour oder die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki.
 
Trotzdem ist es etwas anderes, etwas besonderes – dies war kein Angriff auf eine Stadt im Krieg, auf einen Militärstützpunkt oder eine Vergeltung für einen Militärschlag – es war eine Kriegserklärung an die gesamte Welt und alle Nationen, welche nach den Ansichten einer Gruppe von Menschen, andere Ziele verfolgen, nicht deren Vorstellungen entsprechen oder einfach nur einer bestimmten Nation angehören – sollte uns das nicht nachdenklich machen ?
 
Gotteskrieger nennen sie sich – sie sterben für den heiligen Krieg und nehmen Tausende unschuldiger Personen mit in den Tod.
 
Menschenverachtend und brutal – dieses mal geht es nicht um das Erobern von Land oder Rohstoffen, es geht um die gezielte Vernichtung von Menschen aller Bevölkerungsgruppen und –schichten, welche nicht den gleichen Glauben – oder Irrglauben – haben, wie die selbsternannten Krieger Gottes.
 
Die ganze Welt hielt an diesem 11. September den Atem an – Fassungslosigkeit und Unverständnis, Trauer und Wut bestimmten die Emotionen und Reaktionen der Menschen in aller Welt.
 
Doch einige Tage danach war fast alles wieder "business as usual" – alles ging wieder seinen geordneten Gang.
 
Man hatte den vermutlichen Drahtzieher dieser terroristischen Anschläge ausgemacht – Osama bin Laden – ein Name und ein Bild gehen um die Welt – werden zum Sinnbild des Bösen und des Terrors – Turban und Kalaschnikow als Symbole des Todes.
 
Die Welt rückt wieder näher zusammen, es formiert sich eine militärische Phalanx die sich quer durch unsere "zivilisierte" Welt zieht, die antritt, den Terror zu besiegen.
 
Und ganz plötzlich befindet sich Deutschland und die halbe Welt wieder im Krieg – plötzlich, über Nacht, von der halben Bevölkerung kaum wahrgenommen, weil sie die Aufmerksamkeit für solche Vorgänge verloren hat.
 
Die Sensibilisierung für den akuten Zustand des Weltfriedens ist bei vielen nicht vorhanden – morgens zur Arbeit, in die Schule oder eben aufs Amt um Stütze zu holen, abends in Fitness, Theater oder eben die Kneipe, am Sonntag ausschlafen oder aufs Land fahren.
 
Viele Menschen unserer Zeit bemerken Krieg und Zerstörung erst dann, wenn plötzlich die Urlaubsflieger in das eine oder andere Land gestrichen worden sind, oder die malerische Küstenstadt aus dem vergangenen Sommerurlaub zu Weihnachten als Ruinenmoloch über die Fernsehschirme flimmert.
 
Deutschland, unser hochtechnisiertes und reiches Land befindet sich, wie viele andere Staaten in Europa, plötzlich wieder in einer beginnenden, kriegerischen Auseinandersetzung.
 
Die hierbei angeforderte deutsche Militärhilfe durch die Allianz gegen den Terror ist nur ein kleiner Teil - viel größer ist die Gefahr im eigenen Land durch die "Nebenwirkungen".
 
Milzbrand – Alarm in einem Parkhaus in Baden-Baden, einer Schule im Landkreis, in Postämtern unseres Bundeslandes, in einer großen Firmenanlage in Bühl – vor unserer Haustür.
 
Auch bei uns müssen sich die Menschen wieder an diese Gedanken gewöhnen, welche man gerne verdrängt – welche aber gerade unsere älteren Mitbürger nie vergessen können – tagtäglich die Furcht um das eigene Leben oder um das Leben von Freunden und Familie, die Angst vor dem nächsten Tag und der nahenden Nacht.
 
Wie Dekadenz und in hohem Maße Unvernunft unser Leben eingenommen haben sieht man aktuell an den sogenannten Trittbrettfahrern, an Menschen verschiedenen Alters, welche in ihren üblen Juxanrufen mit Bombenanschlägen drohen oder gar geheimnisvolles weißes Pulver in Briefumschlägen oder Paketen deponieren – nur dem Aufsehen willen oder zum Erlangen eines hohen Spaßfaktors.
 
Späße mit dem Tod oder mit todbringenden Aktionen – birgt solches nicht auch schon fast menschenverachtende Züge – zwar im Kleinen, aber doch immerhin ?
 
Was denken sich gerade Jugendliche bei solchen üblen Scherzen – oftmals nichts, wie man aus den Nachrichten über die ermittelten Täter erfährt – aus Langeweile, um Spaß zu haben, zum Zeitvertreib – ein dreißigjähriger Beispielsweise " um der Kunst willen" und um auf seinen 30. Geburtstag aufmerksam zu machen.
 
Ich denke, dass gerade solche Beispiele auch aufzeigen, wie sehr sich unsere Gesellschaft verändert hat und das Gemeinsame immer mehr in den Hintergrund gerät.
 
Der Einzelne ist sich selbst der Nächste, die Gemeinschaft ist oftmals nur notgedrungen ein Zweckbündnis zum Erreichen bestimmter Ziele.
 
Das Gemeinsame Gedenken an die Toten, an die gefallenen Soldaten und unschuldigen Opfer der Krieger ist meiner Ansicht nach in unserer Zeit wichtiger und notwendiger als jemals zuvor.
 
Nicht nur, um das Andenken an die Opfer des Kriegers, welche man selber gekannt hat, welche zur eigenen Familie oder zu Freunden zählten zu bewahren und sie in der Gemeinschaft der Familie und Freunde zu halten;
 
Nein, ich denke gerade an die Mahnung, welche uns die Opfer von Krieg und Repression geben wollen – eine Mahnung an alle kommenden Generationen, aus den Geschehnissen der Vergangenheit zu lernen und nicht den Götzen einer verblendeten Ideologie zu folgen;
 
Besonders wichtig ist es meiner Ansicht nach aber auch, gerade den jüngeren Generationen durch das Gedenken an unsere Gefallenen, Vertriebenen und Ermordeten aufzuzeigen, dass es auch andere Lebensabschnitte, andere Zeiten gegeben hat und wieder geben kann – jenseits des Überflusses, der Sicherheit und dem Leben in den eigenen vier Wänden, losgelöst vom Anderen.
 
Uns allen sollte es deshalb wichtig sein, wie ich es bereits im vergangenen Jahr jedem ans Herz gelegt habe, sich zumindest ein mal im Jahr mit diesen Dingen auseinandersetzen und nicht nur an das eigene Leben morgen, sondern auch um die bereits beendeten Leben von Angehörigen und Freunden Gedanken zu machen.
 
Schließlich hätte es auch jemand von uns sein können, welcher das Tunnelinferno am Gotthard nicht lebend überstanden hätte, oder aber auch in einem der beiden Flugzeuge mitflog, welche den 11. September zu einem Wendepunkt im Leben vieler Menschen, im Leben einer Stadt, im weiteren Leben aller Nationen werden ließ.
 
Wir alle, sind aufgerufen, diesen Tag des Gedenkens, des Verstehens, aber auch des Nachdenkens gemeinsam zu begehen und unsere Lehren aus dem Beispiel vieler zu ziehen.
 
Ich lade Sie alle ein - im Anschluß mit mir gemeinsam einen Kranz niederzulegen - einen Kranz, welcher an unsere Verstorbenen erinnern soll und als äußeres Zeichen unserem Gedenken und Nachdenken Ausdruck verleihen soll.
 
Nehmen wir die Lehren, welche jeder einzelne daraus ziehen sollte, mit in die kommenden Tage unseres Lebens und versuchen wir diese auch weiterzugeben.

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